Der Weg war das Ziel – entlang am Eisernen Vorhang
Was stellt man sich unter dem Nutzen eines eisernen Vorhangs vor? Nichts Anheimelndes, eher Unheimliches, und an genau so einem Ort war der Start unserer Etappenfahrt von Helmstedt nach Hof. Es ist noch gar nicht so lange her, da hatten einige von uns, wenn sie diesen Grenzübergang erreichten, ein mulmiges Gefühl, egal ob dort Marienborn oder Helmstedt stand. Frei von den unguten Gefühlen der Vergangenheit haben wir uns genau hier mit Dirk getroffen um unsere Tour zu starten und fortzusetzen. Dirk, der Master of Roadbooks, hatte seinen Teil der Strecke bereits auf Usedom begonnen, ihn konnte nichts mehr erschüttern und somit verschoben sich Wertigkeit und Empfindungen bei Beschreibung von „recht anspruchsvoll“ und „hügelig“ aber „alles fahrbar“. Dies waren direkt an der Gedenkstätte die begrüßenden Worte als Maßstab für die folgende Woche.
Aufsitzen und Proberunde auf dem Rastplatz Helmstedt, damit verabschiedete sich Günter, der gute Geist der Truppe, um mit dem Bus uns immer genau dort wieder zu treffen, wo Wasser und Verpflegung aufgenommen werden mußten-100%iges Timing von Anfang bis Ende.
Obwohl viele der kleinen Ortschaften, die wir gleich zu Beginn durchfuhren, in der zweiten Silbe ihres Namens das Wort „Leben“ führen, war unser erster Eindruck, das wahre Leben hat hier nicht stattgefunden, das Dörfchen Offleben gibt’s tatsächlich. Zum Einrollen bot die erste Etappe schon fast alles, was uns die nächsten Tage an Streckenprofil so erwarten sollte, Pisten von jedem Profil, nur jetzt noch in gemäßigtem Format, denn das Motto hieß, stets grenznah und nicht der Touristenroute folgen. Und damit begann der Einstieg in die Welt der „NVA“, auf Plattenwegen, entlang an Messerdrathzäunen und angelegten Gräben als PKW-Sperre, an Selbstschussanlagen und allem, was der Archipel Gulag in diktatorischer Perfektion vorgelebt hatte, hier wurde es optimiert als Lager für fast 17 Millionen Menschen. Emotionslos dem gegenüber zu stehen vor dem Hintergrund, selbst das Glück genossen zu haben, in Demokratie groß geworden zu sein, kaum möglich, volkswirtschaftlich betrachtet eine Pleite mit ansagen. Der Soli, den wir alle leisten, ist nur der Anfang den die Generation der Wiedervereinigung zu leisten hat, die Folgegeneration wird den sozialistischen Wahn korrigieren müssen. 40 Jahre spitzeln statt produzieren ist in 20 Jahren nicht aufgeholt und hoffentlich nie vergessen. Die Mahnmale dieser politischen Subkultur waren auf 800 km im Stundentakt unser Pausenziel, wir alle hatten in dieser Deutlichkeit die einstige Trennung nicht vor Augen. Umso kontrastreicher immer wieder die malerischen Ortsdurchfahrten. Teilweise schien die Zeit stehengeblieben zu sein, wie in Hornburg, ein Dorf wie geschaffen für die Mittagsrast. Ortschaften wie diese haben einen historischen Hintergrund nahezu verdient. Der erste deutsche Papst, Clemens II, fand von Hornburg den Weg nach Rom um dort 10 Monate nach seiner Amtseinführung mysteriös zu sterben. Das Blei in seinem Körper machte ihm zu schaffen, wer immer es ihm auch zugeführt hat, seine Dienstzeit aber hat gereicht, um aufkommendes Lotterleben in der Priesterschaft zu zügeln. Priesterehen waren angesagt mit all ihren Erbfolgen und spätestens damit hört der klerikale Spaß auf. Heute erinnert den Radsportfreund die Papst Clemens RTF an den großen Sohn der Stadt- kein schlechtes Ziel…Unser Etappenziel jedoch hieß Ilsenburg, unweit von Wernigerode und Bad Harzburg, und damit war klar, am nächsten Tag ist der Harz ist zu bezwingen-grenznah. Auf Plattenwegen, zwischen Horchposten und immer am Zaun entlang, über die Höhen des Harz, hier traf der Sport die Kultur in voller Härte. Der VEB Rote Platte hatte hier seine Fehlproduktion abgeladen, absichtlich fertigt man keine Betonplatten mit 28 Langlöchern in denen sich stets ein Viertel Laufrad versenkt. Trotz aller Härten, der Harz ist schön-und Duderstadt ein wunderschönes Etappenziel, die Altstadt absolut sehenswert.
Nicht jeder in unserer harmonischen Gruppe zählte sich zu den ausgesprochenen Bergspezialisten und so war die Hoffnung des Tages das Flusstal der Werra. Nur dumm, dass der Weg ins Tal erst über die sieben Berge führt, man quert die Deutsche Märchenstraße und könnte glauben, der Weg zu Schneewittchen muss hier irgendwo gewesen sein. Jetzt zählten wir nicht unbedingt zu den sieben Zwergen, eher zu den sechs Aufrechten, doch am Ende des Tages fühlte so mancher von uns sich wie der kleine Muck (ich war stets dabei). Das Tal der Werra lockte mit Bad Soden Allendorf und kleiner Verschnaufpause an der Saline, jeder nahm noch einmal einen Hieb salz-und jodhaltiger Luft, und weiter Richtung Tagesziel Eschwege. Überrascht waren wir von dem hohen Freizeitwert rund um Eschwege, eine Seenlandschaft vor der Stadt mit allen Möglichkeiten des Wassersports und großzügigen Campinganalgen.
Hat man sich das Motto gesetzt, der Grenze an ihrem Originalverlauf zu folgen, bedeutet das nicht den Weg des geringsten Widerstands zu wählen. Das wäre immer an der Werra entlang gewesen, doch wir hätten auf dem Weg nach Philippsthal ein Zeugnis gemeinsamer Deutscher Vergangenheit versäumt. Politischen Wahnsinn gab es vor über 70 Jahren schon, an die Hinterlassenschaft der NS Diktatur erinnerte unterwegs das Ortseingangsschild Buchenau, trauriger Standort eines Umerziehungslagers, wie es hinterher genannt wurde. Ein Konzentrationslager und nichts anderes war es tatsächlich. Ursache und Wirkung, die Folge aus Dummheit und Willkür, an Orten des direkten Aufeinandertreffens wird man nachdenklich. Da kam in Philippsthal die Brücke der Einheit, ein wahres Symbol des Friedens, als gut gewähltes Etappenziel gerade recht-ein Gruppenfoto vor dieser Kulisse musste einfach sein.
Die wahre Größe des Heimatlandes erfährt man wohl am besten mit dem Rad. Viele von uns haben die Ostseeküste der neuen Bundesländer schon bereist und so den einen Teil der „Osterweiterung“ kennengelernt. Über die Röhn zu fahren und den Blick nach Osten zu richten eröffnete eine neue Dimension, bis zur Erdkrümmung Landschaft und Landwirtschaft pur. Doch auch diese wunderschöne Idylle blieb nicht verschont von Schutzmaßnahmen gegen die Invasion des Kapitalismus. Point Alpha ist wohl eine der Gedenkstätten die das ganze Maß des Gegenseitigen Misstrauens am deutlichsten wiedergibt. Hier in Geisa wurde die Offensive der Warschauer Paktstaaten als erstes erwartet. Sollten die einen vielleicht in Thüringen planen was den anderen einst in der Normandie gelang…? Aus heutiger Sicht vermittelt es eher den Eindruck eines großen Sandkastenspiels. Jedenfalls kam man sich hier am nächsten, konnte sich gut beobachten und belauschen und stets darauf hoffen, dass nichts passiert. Solche Aussichtsposten haben immer die Eigenart sich auf den höchst möglichen Erhebungen zu platzieren, Point Alpha erst recht, der Off Road Anteil war beachtlich, die Steigung erst recht, und Pferdebremsen wissen genau, wo sie angreifen müssen. War der Anstieg schon nicht so ohne, die Abfahrt war’s auch nicht, ins Tal über Wiesengrund in sportlicher Haltung, man glaubt ja nicht, was Karbongabeln so alles mitmachen. Und wer die stille Hoffnung in sich trug, sich talwärts Richtung Fladungen zu bewegen, hatte die Rechnung ohne unsere Bergspezialisten gemacht. Einige herzhafte Steigungen waren noch im Programm und dann lockte das Ortsschild -mit einem kleinen Haken, das Hotel lag nicht gerade verkehrsgünstig und Zentral sondern in luftiger Ortsrandlage-hoch über dem Dorf. Fladungen von oben, kurz nach der Ankunft Flüssigkeitsausgleich auf der Terrasse mit Weitblick, die Welt kam langsam wieder in Ordnung.
Die Hanglage des Hotels bedeutete für den Folgetag nicht etwa, dass jetzt leichtes Einrollen talwärts der Beginn einer anspruchsvollen Etappe war, ganz im Gegenteil. Kalt aufsitzen und die ersten fünf Kilometer permanente Steigung, danach waren die einen gut durchgewärmt, die anderen bereits am Ende, die nächsten 1000 Höhenmeter konnten kommen. Orte wie Sorghof und Einödhausen deuten nicht auf eine ausgeprägte Infrastruktur hin sondern kommen den Gegebenheiten schon recht nahe und selbst in dieser dünn besiedelten Landschaft hat man penibel jedes Schlupfloch in die Freiheit versucht zu verschließen. Das Mahnmal deutscher Geschichte in Behrungen zeigt eindrucksvoll den Aufwand großflächiger Abschirmung und erhöht gleichzeitig den Respekt all denen gegenüber, die es gewagt und geschafft haben, dieses Risiko einzugehen, solche Grenzanlagen zu überwinden. Wie muss es in einem Menschen aussehen, der sein Leben riskiert, nur um sich frei zu fühlen? Hochachtung den einen – Missachtung den anderen gegenüber, sind Empfindungen an solchen Gedenkstätten. Der Reiz der Bäderlandschaft Thüringens steht dem wohltuend gegenüber. Bad Colberg z. Bsp. überraschte mit Fachwerk auf der einen und Thermalbad mit Kurklinik auf der anderen Seite, als vorher unbekannte Größe. Auf dem Weg nach Bad Bad Rodach musste hier noch ein kurzer Zwischenstopp sein. Ein kleines unscheinbares Kaffee am Ortsausgang, Bänke hinterm Haus, frisch gebackener Kuchen, eine perfekte Rast vor dem Ziel in Rodach, eine muntere Kleinstadt am „grünen Band“. Lag das Hotel in Fladungen schon in beschaulicher Randlage, so war abzusehen, wie es in Rodach sein würde, denn die Buchung dieser beiden Unterkünfte lagen in der selben Hand. Wo sich nichts bewegt entstehen auch keine Geräusche und fünf Km außerhalb war es wirklich ruhig…
Von nun an ging’s bergauf, unser Roadbook drohe mit fast 1.600 Höhenmetern, natürlich alles fahrbar…Gleich die ersten 12 km steter Anstieg, zur Entspannung anschließend gefühlt senkrecht hoch durch den Wald, Kultur muss man sich manchmal auch erarbeiten. In Neustadt war dann doch die erste technische Zwangspause fällig. Die Platten unter einem Paar Rennschuhen hatten nur noch Klingenstärke. Günter hatte unterwegs keinen Radsportladen ausgelassen und im X-ten Versuch einen Treffer gelandet, die Platten waren vorrätig und wurden auch gleich montiert. Die Pause in Neustadt tat gut, denn die Schlussanstiege zur Burg Lauenstein waren schon vom Feinsten. Die Schussfahrt zum Hotel mit 15% Gefälle verwöhnte nur kurzfristig, denn Wolfgangs Bemerkung, dass dies am nächsten Morgen der Anstieg zur Schlussetappe sei brachte dem ersten Bier einen faden Beigeschmack, kleiner Scherz am Nachmittag, Bergspezies haben einen eigenartigen Humor. Das Hotel selbst im Glanz vergangener Tage, riesig plüschiger Saal, gemütliche Tafelrunde bei guter Küche, einheimisches Bier der süffigen Sorte-die Muskulatur dehnte sich wieder.
Bei so viel Grenznähe mutierten wir schon fast zum Kollektiv und Dirk zu unserem Brigadeführer und als solcher hatte er sich, wie bei einem guten Essen, das Beste bis zum Schluss aufgehoben. Jede Etappenfahrt hat ihre Königsetappe und unser L‘Alp d‘Huez sollte das Drei-Länder-Eck sein. Einst stießen hier in diesem Zipfel Sachsen, Bayern und Böhmen aneinander und das, was alle an vergleichbaren Orten dieser Welt tun, geschah auch hier, man „schacherte“ miteinander, friedlich zum gegenseitigen Nutzen, mitunter etwas neben der Legalität. Bayern-Sachsen-Tschechien sind heute hier Grenznachbarn, geschachert wird an anderen Stellen, und Grenzverletzungen sind Vergangenheit. Der Weg dorthin hieß für uns, 1.875 Höhenmeter, natürlich nicht alles über Asphalt, denn auch hier wollten wir grenznah bleiben. Vorbei an Orten, die nur noch aus Gedenktafeln und historischen Bildern bestanden, sie standen bei der Grenzsicherung im Weg, wurden dem Erdboden gleichgemacht, ein Schlupfloch aus dem Arbeiter-und Bauernstaat weniger. Wenn schon pleite, dann ist es letztendlich auch egal, wozu man die letzten Groschen vergeudet, Westdevisen zum Überleben verdiente man im Tal der Ahnungslosen mit IKEA und die Pharmaindustrie honorierten den Dienst an der Menschheit großzügig. Nichts deutete mehr auf diese Sünden der Vergangenheit im Dreiländereck hin. In der Nachmittagssonne strahlte von weitem der Bus, dann wir. Auf den letzten Metern in absoluter Einsamkeit ein kleiner Resthof über dessen Überleben man an dieser Stelle kurz nachdenkt, danach hatten wir es geschafft. Wie immer, Günter an der richtigen Stelle und gemeinsam ging es die letzten hundert Meter abwärts ins Dreiländereck. Der Grenzübertritt über den Mühlbach musste genau so sein wie das Zielfoto. Ein sehr schönes Ziel, ein letzter Schluck aus der Flasche, die letzten Bananen, die letzten Meter nach Hof fuhr uns der Bus.
Nie waren wir näher an Zeugnissen menschlicher Fehlbarkeit als auf dieser Etappenfahrt. Von Papst Clemens bis heute, Fehler wurden schon immer gemacht. Zur schulischen Pflichtaufgabe aller Heranwachsenden sollte ein Besuch des Eisernen Vorhangs eigentlich gehören um zu erkennen, gelogen wurde schon immer, von den einen die den Eid schwören. Dem Volk zu dienen und eigentlich nur den eigenen Vorteil suchen und den anderen, die Wasser predigen aber Wein trinken.
Eine friedliche Koexistenz von Anfang bis Ende hat unsere Gruppe bewiesen, ob Bergkönige, Geländespezialisten oder Schussfahrer, Rücksicht und gegenseitige Motivation glichen alle Leistungsunterschiede aus. Jeder trug seinen Teil zum Gelingen dieser Etappenfahrt bei. Lothar sorgte für die ärztliche Aufsicht und dafür, dass wir stets pünktlich waren, Wolfgang als „technischer Leiter“ hatte schon im Vorfeld mit der Anordnung von 28 mm Bereifung für pannenfreie Fahrt gesorgt und immer bereit im Wind zu fahren, Dirk schonte weder sich noch sein Material und navigierte uns durch unglaubliche Streckenabschnitte, Volker und Udo achteten stets darauf, dass keiner zurück blieb … (wie Udo die Heldenkurbel mit 25’er Rettungsring getreten hat, unser aller Respekt). Und ohne Günter, verhungert und verdurstet in der Einöde wäre unser Schicksal gewesen.
Heimatkunde, Geschichtsunterricht und sportliche Herausforderung-mehr ist in einer Etappenfahrt miteinander nicht zu verknüpfen, es wird schwer werden, dies zu toppen-evtl. im nächsten Jahr?
radsport.tus-westfalia-soelde.de